Schreibst du noch oder tippst du schon?

… fragte die FAZ in einem Artikel vom 14.01.2015, in dem es um neue Lehrpläne für finnische Grundschulen ging. Minna Hermann, die die Richtlinien im finnischen Bildungsministerium erarbeitet hat, vertritt die Meinung, dass es für viele Kinder derart mühsam sei, einzelne Buchstaben auf Papier mit der Hand zu verbinden, dass dies zu Schreibblockaden führe. Der Computer löse das Problem und erlaube es den Schülern, sich stärker auf den Inhalt des Geschriebenen zu konzentrieren. Daher soll in Zukunft die Schreibschrift aus den Lehrplänen gestrichen werden und dem Tippen am Computer Platz machen.

Entsetzt frage ich mich beim Lesen, ob dort nun handschriftliches Schreiben generell unter den Tisch fallen soll. Das Überfliegen des Artikels beruhigt mich dann in dieser Hinsicht wieder ein wenig: Abgeschafft wird ab 2016 nicht das handschriftliche Schreiben; es wird „nur“ die Schreibschrift von den Lehrplänen der Grundschulen verschwinden. Es bleibt dann den Lehrern überlassen, ob sie den Schülerinnen und Schülern weiterhin die Schreibschrift vermitteln möchten.

Auch Irmeli Halinen, Leiterin der Lehrplanentwicklung in Finnland, unterstützt diese Entwicklung:

Statt Schreibschrift zu lernen, sollen die Schüler mehr Zeit darauf verwenden, auf iPad- und Computertastaturen tippen zu lernen. „Dafür brauchen sie Zeit“, sagte sie. Viele Lehrer hätten beklagt, dass gerade Jungen motorische Schwierigkeiten beim Erlernen der Schreibschrift hätten. Auch in den oberen Klassen erfordere diese besondere Schrift viel Übung (Link).

Ist die Druckschrift schon der Normalfall?

Es geht demnach darum, Schreibblockaden zu verhindern und Nachteile durch geringere motorische Fähigkeiten auszugleichen? Ich habe einen Sohn, der gerade die Grundschule hinter sich gebracht hat und kann bestätigen, dass Schönschreiben nicht eben zu seinen herausragenden Talenten zählt. Er bedient auch mit deutlich mehr Engagement iPad und Tastatur als seinen Füller. Ich kann in gewisser Weise also die Aussagen aus Finnland bestätigen. Auf die Konsequenz, die schwer zu lernende Schreibschrift kurzerhand abzuschaffen oder das handschriftliche Schreiben insgesamt drastisch zu kürzen …. darauf wäre ich allerdings nicht gekommen. Meine Erfahrung ist, dass man mit Schreibschrift viel schneller schreiben kann als mit Druckschrift. Außerdem frage ich mich, ob das Abschaffen der Schreibschrift wirklich der Weg der Wahl ist, um feinmotorischen Schwächen zu begegnen. Wäre es nicht konsequenter, gerade aus diesem Grund die Schreibschrift zu fördern?

Vielleicht sind meine Vorstellungen aber auch einfach nur antiquiert? Gibt es auch außerhalb Finnlands Tendenzen, die Handschrift oder Schreibschrift zugunsten der Tastatur abzuschaffen?

Ich mache mich auf die Suche nach weiteren Artikeln und werde überraschend schnell fündig:

  • In Thüringen ist beispielsweise seit 2010 nur noch das Erlernen einer Druckschrift vorgeschrieben. Lehrer dürfen selbst entscheiden, ob sie ihren Schülern noch eine verbundene Handschrift beibringen.
  • In Hamburg ist es Grundschulen seit 2011 freigestellt, ob sie die klassische Schreibschrift noch unterrichten wollen oder nur die einer Druckbuchstabenschrift stark ähnelnde „Grundschrift“ (Link) .
Hamburger Druckschrift ab 2011

Hamburger Druckschrift ab 2011

  • Britische und spanische Schulanfänger lernen ebenfalls eine Art Druckschrift.
  • In Schweden und England können die Schulen ihr Schriftmodell selber aussuchen, und in Neuseeland schreiben die Kinder bis zur vierten Klasse mit Druckschrift. „Es gibt keine Anzeichen, dass Menschen, die erst die Druckschrift und dann eine verbundene Ausgangsschrift lernen, langsamer schreiben“, sagt Erika Brinkmann, Pädagogin an der Hochschule Schwäbisch Gmünd (Link auf PDF-Datei).

Auch in der Schweiz, so lese ich, geht es der Schreibschrift an den Kragen:

„Seit 67 Jahren mühen sich Schweizer Schüler mit der „Schnürlischrift“ ab. Sie ist in den meisten der 21 deutschsprachigen Kantone Standard, wenn schriftliche Arbeiten verfasst werden. Nun soll die Schreibschrift abgeschafft werden, berichtet die „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ). Sowohl die Mehrheit der Kantone als auch die Lehrer wollten stattdessen eine Basisschrift mit nicht verbundenen Buchstaben einführen, die einfacher zu erlernen ist (Link).

Verbundene Schweizer Schulschrift („Schnürlischrift“)

Verbundene Schweizer Schulschrift („Schnürlischrift“)

Abbildung: Adrian Michael, Lizenz: GNU-Lizenz für freie Dokumentation

 

Offenbar ist die Druckschrift schon längst Realität an deutschen Schulen – und nicht nur dort. Was Kinder an Geschriebenem zu sehen bekommen, sind ja fast ausschließlich Druckbuchstaben, dementsprechend versuchen sich Kinder beim Schreibenlernen sowieso in der Regel zuerst an groß gemalten Druckbuchstaben.

Jedenfalls ist die Entwicklung hin zur Druckschrift offenbar an mir vorbeigegangen. Seit wann gibt es sie eigentlich?

Wie es zur Grundschrift kam …

Ein zentrales Element der Neuerungen scheint es mir zu sein, die Handschrift so zu vereinfachen, dass sie sich leichter erlernen lässt und die Schülerinnen und Schüler nicht beim Schreiben behindert, sondern unterstützt. Das Bestreben, Schriften zu vereinfachen ist ja nicht neu. Die Schreibschrift meines Sohns unterscheidet sich deutlich von derjenigen, die ich seinerzeit gelernt habe: Viele Buchstaben sind erheblich „schnörkelloser“. Dazu möchte ich jetzt mehr wissen und stöbere nach den Änderungen der Schreibschrift im Lauf der Zeit.

Ich lese mit Interesse, dass schon Sütterlin bestrebt war, die deutsche Kurrentschrift von überflüssigen Schnörkeln zu befreien und eine leichter zu schreibende Schrift zu entwickeln.

Die deutsche Kurrentschrift

Die deutsche Kurrentschrift

Abbildung: By Deutsche_Kurrentschrift.jpg: AndreasPraefcke derivative work: Martin Kozák (Deutsche_Kurrentschrift.jpg)

[Public domain], via Wikimedia Commons

 

Die deutsche Ausgangsschrift nach Ludwig Sütterlin

Die deutsche Ausgangsschrift nach Ludwig Sütterlin

Abbildung: Der Barbar, Lizenz: CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

 

1941 wurden die Verwendung des alten Schrifttypus‘ Fraktur und kurz darauf auch die Sütterlinschrift verboten. Die Juden, so lautete die von den Nationalsozialisten verbreitete Propaganda, hätten die Druckereien beherrscht und diese Buchstaben geprägt.

Deshalb führte man in den Schulen die Deutsche Normalschrift ein, eine lateinische Schreibschrift welche die Sütterlinschrift ablöste.
1953 entwickelte der Iserlohner Schreibkreis, ein aus Schreibdidaktikern bestehender Zusammenschluss, die Lateinische Ausgangsschrift. Sie verstanden den Prozess des Schreibens als Bewegung und betonten deshalb den lebendigen, rhythmischen Charakter der Schrift. Die Entwickler wollten mit der neuen Ausgangsschrift auch einem Schriftverfall entgegentreten. Die Lateinische Ausgangsschrift wurde bis 1966 in flächendeckend in den Schulunterricht eingeführt.

Auch in Westdeutschland kam es zu dieser Zeit zu einer Überarbeitung der Lateinischen Ausgangsschrift. Verantwortlich hierfür zeichnete sich Heinrich Grünwald, der an der alten Schreibweise die uneinheitlichen Verbindungen und das motorisch schwierige Schreiben einiger Buchstaben kritisierte. Er führte dazu Studien durch, die seine Theorie zunächst belegten. Die Vereinfachte Ausgangsschrift wird seit den 1970er Jahren unterrichtet. Erst 1996 widerlegte der Oldenburger Erziehungswissenschaftler Wilhelm Topsch die Studien und wies teilweise eklatante Mängel nach (Link).

Von welchen eklatanten Mängeln ist hier die Rede? Herr Topsch spricht von Stichprobenproblemen, Datenveränderungen, Fehlern und unbewiesenen Behauptungen. Beispielsweise war die Geschlechterverteilung ungleich (in der Gruppe mit der Vereinfachten Ausgangsschrift waren mehr Mädchen, in der mit der Lateinischen Ausgangsschrift mehr Jungen), die Paarbildung basierte auf den Variablen Geschlecht, vorschulische Bildung, Sozialstatus und Körpergröße; die Intelligenz blieb unberücksichtigt, die Fluktuation der Kinder war erheblich, die veröffentlichten Daten waren nicht einheitlich – um nur einige der Kritikpunkte zu nennen.

Hier findet man den vollständigen Text von Wilhelm Topsch.

Zurück zur Grundschrift …

Ende der sechziger Jahre wurde in Westdeutschland die Grundschule als eigenständige Schulform gegründet. Schönschreib-Stunden verschwanden vom Lehrplan und es wurde die oben erwähnte Vereinfachte Ausgangsschrift entwickelt, die als leichter zu erlernen galt.

In den achtziger Jahren änderte sich die Sicht auf das Schreibenlernen grundsätzlich: Kinder durften zunächst unabhängig von der Orthografie in Druckbuchstaben schreiben. Damit wurde die Druckschrift zur ersten Schreibschrift der Kinder und es stellte sich die Frage nach dem Sinn einer zweiten Schreibschrift. „Ausgangsschrift muss die Druckschrift sein!“ forderte der Grundschulverband in einem Artikel 1997. Da der Begriff „Druckschrift“ jedoch üblicherweise mit Druckvorgängen in Verbindung gebracht wird, wurde vom Grundschulverband der Begriff „Grundschrift“ als handschriftliche Form der Druckschrift eingeführt, in der Schweiz der Begriff „Basisschrift“ (Link auf PDF-Datei).

Schriftbeispiele

Schriftbeispiele

Quelle: Grundschulverband e.V., Link auf PDF-Datei

 

Dieser kurze Überblick über die Geschichte der Schulschriften befriedigt meine Neugier schon recht gut. Ich finde aber noch einen sehr ausführlichen und interessanten Abriss der Geschichte der Schrift in Deutschland, und zwar in dieser PDF-Datei.

Und was meinen die Experten zur Grundschrift?

Mein Sohn hat die „Vereinfachte Ausgangsschrift“ gelernt, die ich allerdings gar nicht als so sehr vereinfacht empfinde, zumal das „z“ darin eher altertümlich aussieht und offenbar der Sütterlin-Schrift entnommen ist. Es steckt also noch Potenzial zur Vereinfachung in dieser Schrift … oder? Angeblich ist die „Vereinfachte Ausgangsschrift“ der Druckschrift schon sehr stark angenähert (so liest man, auch wenn ich ihr das nicht ansehe). Demnach wäre der logische Schritt zur Vereinfachung, zumindest gemessen an den zur Verfügung stehenden Schriften, tatsächlich die Grundschrift.

Aber bedeutet das Reduzieren auf Druckbuchstaben wirklich, wie es die Studie aus Luzern zu bestätigen scheint, eine Erleichterung für die Schülerinnen und Schüler? Ist es leichter, zuerst die Druckschrift und dann eine Schreibschrift zu lernen oder ist es zwar anfangs mühsamer, verbunden zu schreiben, aber letztlich erfolgreicher im Sinn des Erwerbs der Fähigkeit, eine flüssige und schnelle Schrift zu entwickeln? Benötigt man heute überhaupt noch diese Fähigkeit?

Schreiben lernt man ja in der Grundschule, daher habe ich nach Beiträgen des Grundschulverbands zu diesem Thema gesucht. In einem Artikel aus dem Jahr 2011 liest man Folgendes:

„An immer mehr Schulen in NRW unterrichten Lehrer die Erstklässler in der neuen, vereinfachten Schrift, die auf Druckbuchstaben basiert. Bundesweit sind es bereits rund hundert Schulen, die der Empfehlung des Grundschulverbands folgen und die Grundschrift lehren. „Die Schreibschrift ist Ballast, den man nicht mehr braucht“, sagt Ulrich Hecker, der zweite Vorsitzende des deutschen Grundschulverbands und Leiter einer Schule in Moers. Ihre ersten Schreibversuche machen Kinder ohnehin in Druckbuchstaben. Erst in der zweiten Klasse kommt eine von drei normierten Ausgangsschriften hinzu. „Dann können die Kinder gerade flüssig schreiben und lesen und müssen sich wieder umgewöhnen“, sagt Hecker. „Diesen Umweg können wir Kindern ersparen.“ Etwa ein Dreivierteljahr benötigen Grundschüler, um nach den Druckbuchstaben eine Schreibschrift zu lernen. Diese Zeit kann nach Ansicht des Verbandes sinnvoller genutzt werden. „Für Rechtschreibung, viel Lesen, wie es Pisa vorgibt, und Grammatik“, sagt Hecker.“

„Die Schreibschrift spiele im Alltag keine Rolle mehr, meint Bertling. „Was wir heute schreiben, tippen wir größtenteils – und sehen es in Druckschrift“, sagt Bertling. „Sowohl was das Schreiben als auch das Lesen angeht, ist die alte Handschrift etwas beinahe Exotisches (Link auf PDF-Datei).“

Aus der Schweiz erfährt man:

„Die Basisschrift ermöglicht es den Schülern besser, ihre individuelle Handschrift zu entwickeln“, sagte Beat Zemp, Präsident des Schweizer Lehrerverbands der Schweizer Zeitung „20 Minuten“. Die Handschrift sei auch heute noch wichtig, auch wenn ihr Stellenwert wegen der Digitalisierung abgenommen habe. Dem Plan zufolge sollen Schüler die Buchstaben zunächst einzeln lernen, ab der zweiten oder dritten Klasse sollen sie beginnen, diese zu verbinden (Link).

Eine Studie, ebenfalls aus der Schweiz, scheint die Aussagen von Beat Zemp zu bestätigen:

Forscher der Pädagogischen Hochschule der Zentralschweiz in Luzern verglichen in einer Studie die schreibmotorischen Leistungen von 93 Viertklässlern, die etwa je zur Hälfte in einer der beiden Schriften unterrichtet worden waren.

„Dabei bestätigte sich, dass in der Basisschrift unterrichtete Kinder schneller und trotzdem leserlicher schreiben können als mit der alten Schnürlischrift“, sagt Studienleiterin Sibylle Hurschler.

Zudem war der sonst deutliche Unterschied zwischen Mädchen und Jungen in den Schreibleistungen bei der Basisschrift verschwunden (Link auf PDF-Datei).

„Der Grundschulverband bewertet die bisherigen Erfahrungen an inzwischen rund 50 Grundschulen auch ohne streng wissenschaftliche Auswertung so positiv, dass man in der kürzlich gestarteten Kampagne nun bundesweit Lehrer zum Erproben der Grundschrift ermutigen will (Link auf PDF-Datei).“

Die Schreibschrift, die aus der Grundschrift entwickelt wird, finde ich zugegebenermaßen ganz schön; und wenn der Weg dahin über die Grundschrift für die Kinder eine Erleichterung bedeutet, scheint mir nichts dagegen zu sprechen – vorausgesetzt, das weiterführende Schreiben mit Verbindungen wird dann tatsächlich auch vermittelt.

Sehen das auch andere Stellen so positiv? Mitnichten. In der „Welt“ liest man:

„Die Auswirkungen kann man nicht durch kurzfristige Beobachtungen feststellen, sondern nur über mehrere Jahre. Das ist nicht passiert. Stattdessen wird das Experiment ohne fundierte Kenntnisse des Prozesses am lebenden Subjekt durchgeführt.“

Nach diesem Artikel gibt es zudem Indizien dafür, dass das Erlernen einer verbundenen Handschrift positive Auswirkungen auf die Sprach- und Rechtschreibkompetenz von Kindern hat:

Professorin Bredel, zu deren Forschungsschwerpunkten Orthografiedidaktik gehört, weist auf Studien hin, die nahelegen, das Handschreiben sei ein „komotorischer“ Prozess“, bei dem nicht einzelne Buchstaben isoliert verschriftet werden, sondern Buchstabenfolgen, die sprachlichen Einheiten entsprechen. Verbundene Schriften ermöglichen es Schülern daher, sprachliche Einheiten als verbundene Einheiten zu lernen (Link).

Auch der Philologenverband betrachtet die Entwicklung von der Schreibschrift weg kritisch. So ruft der Vorsitzende des Verbands, Heinz-Peter Meidinger, dazu auf, dem Niedergang der Handschrift entgegenzusteuern:

Eine gebundene Handschrift zu erlernen sei ein elementarer individueller Lernprozess für jedes Kind. Es fördere den Gedankenfluss. Meidinger sieht in der Abschaffung der Schreibschrift die Tendenz, dass letztlich eine allgemeine Bildungsarmut vorangetrieben werde.

Die Erziehungswissenschaftlerin Prof. Renate Valtin von der Berliner Humboldt-Universität äußert hingegen, eine Handschrift sei zwar unverzichtbar, da man mit handschriftlichen Notizen den Inhalt eines Vortrags messbar besser versteht und länger im Gedächtnis behält. Eine verbundene Handschrift hält Valtin jedoch für nicht erforderlich (Link).

Werner Kuhmann, Psychologe und Erziehungswissenschaftler an der Universität Wuppertal, plädiert ebenfalls für den Erhalt der Schreibschrift:

„Die Schreibschrift als normierte Verbindung einzelner Buchstaben ist ein Kulturgut, das Übung voraussetzt. Wer den Schülern dafür nicht ausreichend Raum und Zeit gibt, kann sich über Schwierigkeiten nicht wundern.“

Nach Meinung der Vorsitzenden des Elternvereins NRW, Regine Schwarzhoff, beraube man mit Abschaffung der Schreibschrift die Kinder nicht nur einer persönlichen Ausdrucksweise, sondern auch einer der grundlegenden Kulturtechniken, die in der Grundschule vermittelt werden sollten. (Link auf PDF-Datei).

Auch die Münchner Schreibexpertin Ute Andresen findet nicht eben freundliche Worte für die neue Grundschrift:

„Leere Versprechungen, falsch gedacht und irreführend!“, meint die Pädagogin. Die Ausgangsschrift brauche ausführliche Formen und Verbindungen, die später individuell vereinfacht werden könnten. „Die einzelnen Buchstaben müssen sich geschmeidig verändern können, je nachdem, wo sie eingefügt werden. Nur so wird das Schreiben flüssig“, erklärt Andresen. Probleme beim Erlernen der Schreibschrift entstehen aus Andresens Sicht vor allem dann, wenn sich die Schüler schon mit der Druckschrift ungünstige Bewegungsmuster aneigneten. „Das Grundschrift-Konzept sieht aber vor, dass Kinder eigenwillige Bewegungsmuster entwickeln und beibehalten dürfen“, moniert Andresen. Dabei könnten Kinder die Schreibschrift binnen drei Wochen erlernen, wenn sie die Druckbuchstaben gleich in verbindlicher Linienführung eingeübt hätten (Link auf PDF-Datei).

Guido Nottbusch, Professor für Grundschulpädagogik an der Uni Potsdam, meint hingegen:

„Manche Buchstabenformen in den älteren Schulschriften sind reichlich kompliziert. Wenn man z. B. das große H in der Lateinischen Ausgangsschrift anschaut, wird kein Mensch das als Erwachsener noch so schreiben, wie er es als Kind gelernt hat. Für mich kommt es darauf an, dass die Schrift möglichst leicht zu lernen ist und dass die Kinder möglichst schnell ein hohes Tempo beim Schreiben gewinnen. Denn wer schnell schreibt, kann die Gedanken schneller aufs Papier bringen und hat mehr Zeit, darüber nachzudenken, was er überhaupt schreibt. Selbstverständlich ist auch wichtig, dass es lesbar ist, denn sonst brauche ich gar nicht erst zu schreiben.“

Zur Bedeutung der Schreibschrift merkt er an:

„Es gibt dazu eine kanadische Studie, bei der drei Gruppen untersucht wurden. Die eine Gruppe hat von Anfang an eine Schreibschrift gelernt, die zweite Gruppe eine Druckschrift und die dritte Gruppe zuerst eine Druckschrift und dann eine Schreibschrift. Am Ende zeigte sich, dass die Kinder, die einmal gewechselt haben, leistungsmäßig zurückgefallen sind. Das Nochmallernen kostet also Zeit. Die Befürworter des Wechsels sagen dazu: Ja, aber das ist es uns wert. Auch dagegen kann man nicht so viel sagen. Die Kinder setzen sich ja mit der Buchstabenform noch einmal auseinander und lernen es damit vielleicht intensiver. Aber man kann diese Zeit natürlich auch anders nutzen (Link).“

Ich muss gestehen, dass mich meine Recherche eher in meiner Meinung bestärkt, für den Erhalt der Schreibschrift zu plädieren (wenngleich ich mich leider nicht in einer Position befinde, in der ich mit meinem Plädoyer irgendetwas erreichen könnte …). Ich gehe allerdings mit Guido Nottbusch konform: Schnell schreiben zu können, halte ich für das wichtigste Lernziel beim Schreibenlernen, wenn man vom kulturellen Aspekt absieht.

… oder sollen die Kinder doch lieber tippen?

Nachdem ich, wie ich finde, einen guten Überblick darüber gewonnen habe, was für und gegen die Schreibschrift spricht, möchte ich mich einem anderen Aspekt zuwenden, der in dem Artikel über Finnland anklingt: Der Fokus beim Schreiben soll stärker auf die Arbeit am Computer gelegt, es soll mehr getippt und weniger handschriftlich geschrieben werden.

Auch in Deutschland wird eine verstärkte Digitalisierung gefordert, da deutsche Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich bezüglich Medienkompetenz nur im Mittelfeld liegen (Link).

Mehr mit elektronischen Medien zu arbeiten, bereitet auf Medienkompetenz vor. Allerdings: Medienkompetenz beinhaltet ja viel mehr als die Fähigkeit, schnell zu tippen oder ein Tablet bedienen zu können. Welche Maßnahmen sind damit verbunden, den Schülerinnen und Schülern Medienkompetenz zu vermitteln? Ab wann ist es sinnvoll, Kindern den Umgang mit Medien zu vermitteln? Es wäre interessant, dieses Thema zu vertiefen … im Moment verzichte ich jedoch darauf. Nachdem ich nun viel zu Schreibschrift und Druckschrift gelesen habe, möchte ich den Aspekt Handschrift versus Computer noch ein wenig unter die Lupe nehmen: Wie weit ist das Verdängen der Handschrift durch Tablets und Computer schon fortgeschritten?

Ich werde in der Nachbarschaft schnell fündig:

In den Niederlanden gibt es inzwischen mehr als zwanzig sogenannte Steve-Jobs-Schulen, in denen iPads Lehrbücher und Hefte von der ersten Klasse an ersetzen. 70 bis 80 Prozent des Unterrichts erfolgt an diesen Schulen mit dem iPad (Link).

Herr de Hond betont, dass Apps das Lernen integrativer gestalten und begründet die sehr starke Digitalisierung damit, dass generell nur noch sehr wenig handschriftlich geschrieben wird – so werden nach seinen Worten nur noch etwa vier Prozent der Briefe in den Niederlanden handschriftlich verfasst.

Wie bewerten Fachleute die Digitalisierung in Schulen? Ich entdecke ein Buch zu diesem Thema: „Die Lüge der digitalen Bildung. Warum unsere Kinder das Lernen verlernen“ von Gerald Lembke und Ingo Leipner.

In diesem Buch wird die fortschreitende Digitalisierung an deutschen Schulen kritisiert. Lembke ist Studiengangsleiter für Digitale Medien an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Mannheim und Präsident des Bundesverbandes für Medien und Marketing. Er ist der Meinung, dass die Befreiung des kindlichen Lernprozesses von Computern die Medienkompetenz ab dem zwölften Lebensjahr überproportional fördert. Erst dann sind ihm zufolge die Kinder von der neurowissenschaftlichen sowie von der entwicklungsbiologischen Reife in der Lage, Computer zielgerichtet für einen Lernprozess einzusetzen. In einem Interview mit Matthias Kohlmaier von der Süddeutschen Zeitung bemerkt er:

„Wenn ein Kind im Alter von acht Jahren ganz toll mit dem iPad umgehen kann, hat es vielleicht eine hohe Wischkompetenz, mit Medienkompetenz hat das aber nichts zu tun. Wenn Kinder mit Smartphones, Tablets und Co. hantieren, bedienen sie sie völlig kontextfrei – nicht mit den Zielen Wissensaneignung und -verwertung. Medienkompetenz entwickelt sich erst dann, wenn die Schüler reif genug sind um zu verstehen, was sich auf dem bunten Bildschirm vor ihnen abspielt, und sie bei der Nutzung von digitalen Hilfsmitteln in der Bildung zielgerichtet unterstützt werden (Link).“

An der University of California Los Angeles, so lese ich an anderer Stelle, wurde in Experimenten der Lerneffekt beim Mitschreiben per Hand und per Tastatur verglichen. Die Ergebnisse zeigten bei unterschiedlichen Versuchsanordnungen, dass sich die Probanden, die handschriftliche Notizen machten, deutlich besser an die Inhalte von Vorträgen erinnerten als die Probanden mit dem Laptop.

Die Hauptautorin der Studie, Pam Mueller, Psychologin an der Princeton University, merkt jedoch auch an:

„Ich sehe nicht, dass wir eine Menge Menschen dazu bringen werden, zum Notizblock zurückzukehren.“

Allerdings gäbe es heute diverse neue Techniken mit Tablets und elektronischen Stiften, die vielleicht den Handschrift-Effekt nutzen könnten, sodass das Notieren bewusster erfolgt als am Laptop. Für das optimale Lernen müsse man gezwungen sein, die Informationen nicht gedankenlos niederzuschreiben, sondern bereits beim Eintreffen zu verarbeiten (Link).

In digitaler Hinsicht sind die USA vermutlich Vorreiter. Und da die Studie in Los Angeles durchgeführt wurde, schaue ich nun dort den Status Quo an:

„A massive expansion of classroom technology has come to a grinding halt in Los Angeles. The LA Unified School District had planned to buy some 700,000 iPads for its students and teachers. The Apple tablets would include learning software built by publishing giant Pearson (Link).”

Das Projekt scheiterte allerdings an extrem hohen Kosten, den fehlenden Qualifizierungsmöglichkeiten von Lehrern und daran, dass die Software nicht fehlerfrei funktionierte.

Mein Blick fällt auf die Anzahl der iPads, die eingeplant waren: 700.000! Mir ist seither beim Lesen noch gar nicht bewusst geworden, welch ein gigantischer Markt die Digitalisierung des Unterrichts für Tablet- und Laptop-Hersteller eröffnet, zumal Laptops und Tablets ja vermutlich nicht nur einmal pro Schullaufbahn gekauft werden. Das bedeutet ein gigantisches Geschäft für die Hersteller. Allein in Deutschland gab es im Schuljahr 2014/2015 immerhin 11 Millionen Schülerinnen und Schülern (Quelle: statistisches Bundesamt).

Olaf Kleinschmidt, ein Schulberater und Lehrer, sieht das ebenfalls so: Er rechnete laut „Pisaversteher“ hoch, dass die Vollversorgung der Schüler in ganz Deutschland mit einem Tablet mit knapp sieben Millionen Euro zu Buche schlagen würde, Aktualisierungen nicht eingerechnet. Dabei ist er, wie ich lese, kein prinzipieller Gegner der Digitalisierung:

„Dass Schulen mehr Computer anschaffen, ist prinzipiell kein Unheil. Die Digitalisierung der Schulen ist ohnehin nicht aufzuhalten. Schon jetzt gibt es spannende Lernprojekte: sei es mit der Kooperation von Schülern über Lernplattformen und Blogs; sei es mit Lern-Apps, etwa jenen, mit denen man Arbeitsdokumentationen als E-Books mit Film, Bild, Grafiken und Ton erstellen kann. Bislang allerdings geht das Projekt „Tablets für jeden Schüler“ und Lernen 2.0 nicht sehr fix voran. Eine Abschaffung der Schreibschrift würde diesen Stau auf geradezu rabiate Weise lösen – sie würde wie ein Brandbeschleuniger für die zähe deutsche Debatte wirken (Link).“

Ich denke, dass die zunehmende Digitalisierung der Schulen, auch wenn diese zur Zeit in Deutschland noch schleppend voranzuschreiten scheint, nicht aufzuhalten ist. Abgesehen von pädagogisch ausgereiften Lern-Apps und Lernplattformen bietet das Internet einen gigantischen Wissensfundus. Mit diesem umzugehen und Informationen zu bewerten, ist mit Sicherheit ein wichtiges Lernziel, und eine Studie der Universität Hamburg an einem Gymnasium bestätigt auch,

„… dass sich die schulbezogene Mediennutzung aller Akteure im Verlauf des Projektes intensiviert hat. Dies betrifft vor allem die ohnehin häufig zu beobachtenden Medienpraxen Recherchieren, Texte lesen und bearbeiten sowie die Präsentation von Arbeitsergebnissen. Besonders relevant scheint in diesem Kontext zu sein, jederzeit spontan auf das Tablet zugreifen zu können, z. B. während des Unterrichts, um während des Unterrichts kurz etwas nachzuschauen und für eine Wortmeldung zu nutzen (Link auf PDF-Datei) …

Ich würde es allerdings für eine gravierende Fehlentscheidung halten, der Digitalisierung das Lernen insgesamt unterzuordnen – digitale Medien sollten das Lernen unterstützen und begleiten, aber nicht dominieren.

Ein anderer Aspekt, der bei der Diskussion in den Medien irgendwie unter den Tisch zu fallen scheint, ist die finanzielle Belastung für Eltern, die Tablets und Notebooks für ihre Kinder kaufen müssen. Diese Ausgaben sind für viele Haushalte (wenn überhaupt) nur mit Mühe tragbar.

Zurück zur Hand- und Schreibschrift. Auf den ersten Blick scheint das „Verheiraten“ der iPads mit der Handschrift eine praktikable Lösung zu sein: Man arbeitet mit einem elektronischen Medium und notiert dennoch handschriftlich, nutzt also die Vorteile aller „Medien“. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob das ein praktikabler Weg ist. Die oben erwähnte Studie der Universität Hamburg zeigt, dass dieses Vorgehen zumindest nicht für alle Schülerinnen und Schüler die erste Wahl darstellt:

„Während das Lesen am Tablet, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, relativ unproblematisch zu sein scheint, wird das Schreiben an dem Gerät sowohl von den Jugendlichen als auch von den Lehrkräften hochambivalent verhandelt.“

„Einige stellten einen Großteil ihres persönlichen Informationsmanagements auf die Nutzung digitaler Medien um. Teilweise kehrten die Schülerinnen und Schüler jedoch nach einer Phase der Erprobung aus unterschiedlichen Gründen wieder zu einer verstärkten Nutzung analoger Medien zurück. Andere weisen aber auch darauf hin, dass sie das Arbeiten mit analogen Medien der Arbeit mit digitalen Medien vorziehen (vor allem Lesen und Schreiben bzw. Annotieren auf Papier). Es bleibt aber zu klären, ob es sich hierbei um eine generelle Präferenz im Sinne einer von der Schulpraxis unabhängigen Orientierung oder Einstellung handelt, oder ob diese Vorlieben das Resultat jahrelanger Gewöhnung sind.“

Ich frage mich auch, ob man auf einem Bildschirm jemals so schnell querlesen kann wie in einem ausgedruckten Dokument, da man elektronisch nicht so gut blättern kann. Mit Sicherheit gibt es dazu auch schon Studien, die dies be- oder widerlegen. Ich gehe diesem Thema an dieser Stelle aber nicht weiter nach.

In einem Punkt bin ich mir jedoch sicher: Um Rechtschreibung zu lernen, muss man mit der Hand schreiben – ganz ohne Autokorrekturfunktion. Ausnahmen bestätigen dabei die Regel: Für Legastheniker und Personen mit sehr starker Sehschwäche sind Autokorrektur, Vergrößerungsmöglichkeiten und andere unterstützende Funktionen schlicht segensreich. Allerdings fördert das Tippen nicht die feinmotorischen Fähigkeiten und Legasthenikern wird die Chance genommen, ihrer Schreibschwäche entgegenzuwirken.

Benötigen wir Schreibschrift? Damit man die Vorteile handschriftlichen Schreibens nutzen kann, ist zumindest eines unabdingbar: Man muss schnell schreiben können. Die Schreibschrift ermöglicht durch die Verbindung der Buchstaben ein viel schnelleres Schreiben als die Grundschrift. Als vielleicht noch wichtiger empfinde ich das Wahrnehmen von verbundenen Buchstabenfolgen als sprachliche Einheiten. Ob ein nachträgliches Verbinden der Buchstaben der Grundschrift auch ein Verbinden zu sprachlichen Einheiten zur Folge hat oder ob das Verbinden durch die vorgeschaltete Grundschrift verhindert wird, konnte ich leider nicht herausfinden. Die Zukunft wird zeigen, ob sich das Grundschriftmodell bewährt.

Zum Thema Digitalisierung der Schulen und Medienunterricht gäbe es noch viel zu lesen und zu schreiben. Medienkompetenz bezieht sich ja nicht nur darauf, gut tippen und recherchieren zu können. Medienkompetenz bedeutet auch, elektronische Medien beiseite legen zu können, ein Qualitätsempfinden zu entwickeln, sich nicht zu jeder Zeit und mit jedem Angebot berieseln zu lassen und ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Kommunikation über Medien und dem direkten Austausch mit dem Gegenüber zu entwickeln. Das wäre einen eigenen Artikel wert.

 


Titelbild: Ministerio de Educación, Lizenz: CC BY-SA 3.0-igo, via Wikimedia Commons